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Schweiz Wirtschaft und Finanzen

Was Ueli Maurer nicht will, dass du es weisst.

Die Angst vor Schulden bremst die Wirtschaft und den Klimaschutz aus. Die Schweiz kann sich viel mehr leisten, als du denkst.

Wieso gibt es keine weitere grosse Unterstützungspakete für die Wirtschaft in dieser Pandemie? Bundesrat und Finanzminister Ueli Maurer sagt, die Schweiz könne es sich nicht leisten. Das stimmt nicht.  Die Schweiz kann sich weit mehr leisten, als Ueli Maurer uns vormacht. 

In diesem Text zeige ich auf, wie hoch die schweizerische Staatsverschuldung ist, weshalb Schulden nicht zwingend zurückbezahlt werden müssen, warum der Staat mehr ausgeben sollte, wo die wahren Verschuldungsrisiken liegen, wie wir Schulden besser messen können, wofür die Schweiz viel mehr Schulden aufnehmen soll (speziell in Wirtschaftskrisen oder Klimakrisen), und wie die Schuldenbremse und politisches Kalkül der notwendigen Schuldenaufnahme im Weg stehen.

Los gehts.

Die aktuelle Verschuldung

Es gibt verschiedene Arten, die Schuldenquote zu berechnen. Ich verwende die Schuldenquote der Eidgenössischen Finanzverwaltung für die Schweiz und jene der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich für Vergleichsländer. Die Schweiz hatte im Jahr 2019 Schulden in der Höhe von 25.8% der Wirtschaftsleistung. In diesem Wert sind die Schulden von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammengerechnet. Die durchschnittliche Schuldenquote im Euro-Raum lag bei 84%

Durch die Krise und die Unterstützungsmassnahmen des Bundes während der ersten Welle der Pandemie werden die Zahlen für 2020 etwas anders aussehen, aber es ist längst nicht dramatisch. Laut den Berechnungen des Bundes von Ende September soll die Schuldenquote Ende 2020 bei 29.1% des BIP liegen. 

Ein kleines Gedankenspiel: Wenn wir die Schuldenquote auf das Niveau der Euro-Länder vor der Pandemie anheben würden, müssten wir Schulden in der Höhe von 54.9% des BIP neu aufnehmen. Laut den Oktober-Prognosen des Staatssekretariats für Wirtschaft wird das BIP 2020 bei ca. 700 Milliarden Franken liegen. 54.9% davon sind 384.3 Milliarden Franken. Was würdest du mit 384.3 Milliarden kaufen? Ein wenig Pandemie-Resistenz für die Wirtschaft, viel Klimaschutz und ein Paar warme Socken? Ich auch.

Schöne falsche Floskeln

Zurück in die Realität. Der Bundesrat hat als Unterstützungsmassnahme für die Wirtschaft gerade 1 Milliarde Franken für “Härtefälle” bereitgestellt. Und Finanzminister Maurer wünschte sich in der Samstagsrundschau vom 21. November, “dass wir die Schulden möglichst schnell wieder zurückzahlen”. Zudem sagte er, dass “Schulden immer ein Problem” seien und dass Schulden einfach “noch nicht bezahlte Steuern” seien.

Diese Aussagen sind wahrscheinlich repräsentativ für die Grundhaltung vieler bürgerlicher Politikerinnen in der Schweiz. Leider sind sie auch falsch. Speziell zum jetzigen Zeitpunkt.

Aktuell muss die Schweiz nichts bezahlen für Schulden, die sie neu aufnimmt. Dank der Negativ-Zinsen wird der Staat sogar bezahlt fürs Schuldenaufnehmen. Die Kosten können wir also vorerst vernachlässigen. Du fragst dich, wie das gehen soll? Ich komme weiter unten darauf zurück. 

Wachs dich frei

Zuerst zur Aussage, dass Schulden einfach “noch nicht bezahlte Steuern” seien: Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir hätten eine Schuldenquote von 100%, die sich zusammensetzt aus 100 Franken Staatsschulden und 100 Franken BIP. Nehmen wir weiter an, dass dieser Mini-Modell-Staat im nächsten Jahr ein ausgeglichenes Budget hat. Er gibt genau so viel aus, wie er einnimmt. Darum ändert sich an seinem Schuldenstand nichts. Nehmen wir zudem an, dass die Wirtschaft mit ca. 2% moderat gewachsen ist. Das BIP beträgt also neu 102 Franken. Die Schuldenquote (Schuldenbestand/BIP) liegt demnach neu bei 98.04%. Die Schuldenquote sinkt obwohl keine Schulden zurückbezahlt wurden. 

Schulden müssen nicht zwingend zurückbezahlt werden. Man kann aus ihnen “rauswachsen”. Natürlich wird die Besitzerin des Schuldtitels nach Ablauf ihr Geld zurückerhalten. Der Staat muss dieses Geld aber nicht aus Steuern zurückzahlen, sondern kann es durch die Herausgabe eines neuen Schuldtitels finanzieren. 

5 Milliarden pro Jahr

Wenn man nicht den Anspruch hat, die Schulden abzubauen, sondern zum Beispiel die Schuldenquote stabil zu halten, kann man sich sogar ein konstantes Defizit im Staatsbudget leisten. Im Fall des Mini-Modell-Staats wäre das ein Defizit von 2 Franken. Im Fall der Schweiz sind das bis zu 5 Milliarden Franken jährlich. So rechnet das zumindest der ehemalige Sektionsleiter in der eidgenössischen Finanzverwaltung und heutige GLP-Nationalrat Roland Fischer.

Wenn die Schweiz die ohnehin schon tiefe Schuldenquote stabilisieren statt weiter senken will, hat sie also 5 Milliarden zusätzlich zur Verfügung. Niemand müsste dafür mehr Steuern zahlen.

Mit 5 Milliarden kann man einiges machen. Aber die Schweiz hat noch viel mehr Ressourcen. Und diese sollte sie nutzen.

Billiggeld allein bringt noch nicht viel

In den vergangenen zehn Jahren haben die Zentralbanken in den USA und in Europa ihre Geldschleusen immer weiter geöffnet, um die Wirtschaft am Leben zu halten. Sie riefen die Regierungen auf, durch eine expansive Finanzpolitik ebenfalls ihren Beitrag zur Vitalisierung der Wirtschaft beizutragen. Öffentliche Investitionen sollten den Unternehmen die Zuversicht geben, selbst wieder mehr zu investieren. Aber die expansive Finanzpolitik und die grossen Investitionen blieben aus. In vielen europäischen Ländern wurde durch die radikale Sparpolitik sogar das Gegenteil erzwungen. 

Dadurch blieb das Vertrauen der Wirtschaft tief und Zentralbanken mussten ihre Zinsen auf tiefem Niveau lassen. Statt produktive Investitionen zu tätigen, beschlossen Unternehmen, mit dem billigen Geld Aktienrückkäufe zu tätigen und damit Aktienpreise und Manager-Boni zu maximieren.

Die Tiefzins-Politik der Zentralbanken ist mittlerweile zu einem Meme geworden:

Viele Politiker scheuen sich davor, öffentliche Investitionen zu tätigen, weil sie annehmen, dass Private besser und effizienter investieren. Zudem fürchten sie, dass der Staat durch seine Investitionen andere Investoren vom Markt verdrängt. Aber viele Investitionen können nur staatlich effizient getätigt werden, weil sie zu gross oder zu riskant sind für Private. Die Sicherheit der staatlichen Unterstützung gäbe den Privaten aber das nötige Vertrauen um ebenfalls zu investieren.

Die wahre Überschuldung

Staatliche Investitionen mögen sinnvoll sein, aber besteht keine Gefahr der Überschuldung? 

Die Gefahr der Überschuldung besteht momentan vor allem im Privatsektor. Durch das Billiggeld haben Unternehmen sich stark verschuldet, um ihre Eigenkapitalrendite zu optimieren und ihre Aktienpreise hochzutreiben. Ein Ausweg aus dieser Situation ist das Platzen dieser Blase der Privatverschuldung. Viele Unternehmen würden unter dem Gewicht ihrer Schulden in den Konkurs gehen. Die Kreditausfälle würden Banken in Bedrängnis bringen. Und wenn Banken gerettet werden müssten, könnte das wieder die eine oder andere Staatskasse überfordern. Investorinnen würden in sichere Werte flüchten, zum Beispiel den Schweizer Franken. Das wiederum würde die schweizerische Exportwirtschaft treffen, die einen Doppelschlag von Wirtschaftskrise und Franken-Aufwertung verkraften müsste. 

Dieser Ausweg aus der Überschuldung ist kein schöner.

Der andere Ausweg ist Wirtschaftswachstum. Genau wie die Staatsverschuldung kann auch das relative Gewicht der Privatschulden gegenüber der Gesamtwirtschaft durch Wachstum reduziert werden. Und der einfachste und schnellste Weg für mehr Wachstum sind zusätzliche Staatsausgaben, die nicht durch Steuererhöhungen finanziert werden. Als vernetzte Wirtschaft ist die Schweiz auch auf die Wirtschaftsentwicklung (und die Staatsausgaben!) in anderen Ländern angewiesen. Sie kann aber durch staatliche Investitionen, Ausgaben und Steuererleichterungen ihren Teil dazu beitragen, die Wirtschaft anzukurbeln.

Sinn und Unsinn der Schuldenquote

Mehr Staatsschulden und mehr Staatsinvestitionen wären also gut. Aber wieviel denn?

Aktuell misst man Verschuldung anhand der Schuldenquote, die den Schuldenbestand in Relation zur Wirtschaftsleistung setzt. Die Metrik ist anschaulicher als der absolute Schuldenbetrag in Schweizer Franken. Sie stammt aber aus einer Zeit, in der Anlegerinnen  für schweizerische Bundesobligationen noch 5%-6% Zins erhielten. Die Zinslast wurde zwar durch eine höhere Inflation relativiert. Aber dennoch: Wenn man Schulden in der Höhe von 100% der Wirtschaftsleistung hatte, wurde es bei solchen Zinssätzen teuer und andere Budgetprioritäten mussten darunter leiden. Im heutigen Negativzins-Umfeld bricht dieser Zusammenhang weg. Die Schuldenquote ist kein zuverlässiger Indikator mehr für die Zinslast.

Die Schuldenquote ist zwar einfach verständlich, aber heute wenig aussagekräftig. Sie vergleicht einen Bestand aus der Vergangenheit (den Schuldenbestand) mit einem Fluss aus der Gegenwart (Wirtschaftsleistung pro Jahr). Sie erzählt uns folgende Geschichte: Wir müssten 30% unseres jährlichen Einkommens aufgeben, um unsere Schulden zurückzuzahlen. Diese Geschichte ist realitätsfern und irreführend. Wir müssen niemals die ganzen Staatsschulden in einem Jahr zurückzahlen. Meistens ist es sinnvoller, die Schulden zu refinanzieren. Und wenn man es doch als nötig erachtet, die Schulden zu reduzieren, dann macht man das über einige Jahre verteilt. 

Japan

Wie irrelevant die Metrik ist, zeigt das Beispiel Japans. Im vergangenen Jahr betrug die Schuldenquote Japans 204%, also mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Trotzdem zahlt Japan praktisch nichts für seine Schulden: 0.019% Zins erhalten Anlegerinnen für eine 10-Jahres-Obligation des japanischen Staats. Sie sind sich also trotz rekordhoher Verschuldung sehr sicher, dass sie dieses Geld wieder zurückerhalten. 

Ein Gedankenspiel: Wenn die Schweiz ein japanisches Staatschuldenniveau erreichen wollte, müsste sie 1’225 Milliarden Franken aufnehmen. Wir könnten allen Bewohnerinnen und Bewohnern der Schweiz etwa 143’000 Franken bar auf die Hand legen. Das wäre mal was, Herr Maurer! 

Nun gut, zwischen der #KäLuscht-Politik von Herrn Maurer und den 143’000 Franken pro Person gibt es noch sehr viel Spielraum. Als Eingrenzung der idealen Schuldenhöhe für die Schweiz dienen sie kaum.

Schulden besser messen

Statt über eine Schuldenhöhe zu spekulieren, ab der es uns unangenehm wird, können wir uns fragen, wieviel wir mittelfristig bereit sind, für unsere Schulden zu zahlen. Eine bessere Messgrösse als die Schuldenquote ist deshalb das Verhältnis unserer realen Zinsausgaben zur Wirtschaftsleistung. Oder anders: Wieviel von unserer jährlichen Wirtschaftsleistung geben wir für unsere Schulden aus? Berechnet wird das folgendermassen: 

  • (r – i) x S / BIP = reale Zinsausgaben pro Wirtschaftsleistung
  • r = Durchschnittlicher Zinssatz des aktuellen Schuldenbestands
  • i = Inflationsrate
  • S = aktueller Schuldenbestand
  • BIP = aktuelle Wirtschaftsleistung

Wir könnten uns zum Beispiel darauf einigen, dass wir mittelfristig nicht mehr als 1% der Wirtschaftsleistung für Zinszahlungen ausgeben wollen, wie das der Ökonom Jason Furman vorschlägt.

Die mitrechnende Leserin merkt jetzt: Solange wir Minus-Zinsen (und keine negative Inflation) haben, könnten wir mit dieser Metrik unendlich viel Schulden aufnehmen.

Heisst das, wir können uns nun alles leisten?

Nein. Aber viel mehr, als wir bisher meinten. Bevor ich darauf eingehe, was wir uns leisten können und was nicht, muss noch auf eine weitere Befürchtung der Schulden-Gegner eingegangen werden.

Was, wenn die Zinsen steigen?

Jene, die hohe Schulden verhindern wollen, fürchten sich vor allem vor dem Szenario, dass die Zinsen plötzlich ansteigen und der Schuldenberg zu viel höheren Zinsen refinanziert werden müsste. In diesem Fall drohen die Kosten ausser Kontrolle zu geraten und müssten durch starke Steuererhöhungen, Sparpolitik oder Inflation wieder gebändigt werden. Alle diese Massnahmen haben unschöne wirtschaftliche Nebenwirkungen, wenn sie zu aggressiv verfolgt werden.

Der Vorteil der realen Zinslast als Metrik besteht darin, dass sie einige Jahre in die Zukunft blicken kann. Weil ein grosser Teil der Staatsschulden im Schuldenbestand mehrjährig sind und wir deren Verzinsung kennen, wissen wir, wieviel wir in den nächsten Jahren ungefähr an Zinsen zahlen müssen. Wenn nun die Zinsen zu steigen beginnen, hat die Politik Vorlaufzeit, um darauf zu reagieren. Das ist auch ein Argument dafür, in Zeiten von Negativzinsen möglichst viele langjährige Kredite aufzunehmen. So kann die Zinsbelastung länger auf einem tiefen Niveau gehalten werden, selbst wenn die Zinsen steigen. 

Die Grafik unten zeigt die Zinsstrukturkurve der Schweiz. Sie bildet die Zinsen für schweizerische Staatsschulden je nach Laufzeit ab. Links sind die Zinsen für kurzfristige Obligationen abgebildet, rechts die Zinsen für langfristige Obligationen. Die Schweiz kann momentan Geld für 50 Jahre zu einem Zins von -0.45% aufnehmen. Durch die Aufnahme solcher Schulden kann sich die Schweiz eine tiefe Zinslast über Jahre sichern.

Quelle: https://de.investing.com/rates-bonds/switzerland-government-bonds

Die Befürchtung der Schulden-Gegner muss dennoch ernstgenommen werden. Die Politik hat die Aufgabe zu verhindern, dass der Staat dauerhaft von der Refinanzierung hoher Schulden abhängig wird. Die meisten konstanten Ausgabeposten der Regierung sollten deshalb durch die laufende Rechnung und nicht über Schulden finanziert werden. Das betrifft zum Beispiel Ausgaben für die Armee, die Landwirtschaft oder für die soziale Sicherheit.

Wofür wir Schulden machen sollten

Es gibt aber Ausgabeposten, die sich mittel- oder langfristig plausibel selbst finanzieren. Ein aktuelles Beispiel wären die Ausgaben für die ETH. Die ETH treibt die Wirtschaft als Forscherin, Innovatorin und Ausbildnerin derart voran, dass sie ihre Kosten locker durch Wachstumsimpulse in die Wirtschaft wettmacht. Eine unabhängige Studie schätzte die Wertschöpfung der ETH auf über fünf Franken für jeden investierten Franken. Das heisst, wir können die ETH über Schulden finanzieren, ohne sie je zurückzahlen zu müssen. Die durch sie generierte Wertschöpfung lässt uns aus der Schuld “hinauswachsen”. 

Neben der ETH gibt es viele andere Ausgabeposten, die wir als Investitionen bewerten können und die wir über Schulden finanzieren sollten, zum Beispiel Teile der Bildungs- und Forschungsausgaben. Konkret: Frühkindliche Betreuungsangebote haben einen stark positiven Einfluss auf die Wirtschaft. Einerseits weil sie Eltern erlauben, bezahlter Arbeit nachzugehen, andererseits weil die Kinder später höhere Einkommen erzielen und tendenziell weniger auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das heisst, wir können in mehr Kita-Plätze investieren und das Ganze per Schulden finanzieren. Bei Bildungsausgaben ist die Finanzierung über Schulden etwas komplexer als bei der ETH, da Bildung in der Schweiz auf Kantons- und Gemeindeebene angesiedelt ist. Das Föderalismusproblem wird aber lösbarer, sobald wir realisieren, dass die Finanzierung kein Problem ist.

In zwei weiteren Fällen sollte man keinen Gedanken an die Schuldenhöhe verschwenden.

In einer Krise: Denk an Wachstum statt an Schulden

Betrachten wir zuerst eine Wirtschaftskrise, die durch einen äusseren Schock zu allgemeiner Verunsicherung und zu einem Nachfrage-Einbruch in der Wirtschaft führt. In der aktuellen Pandemie gehen Unternehmen zugrunde und Jobs verloren, nicht weil sie schlecht arbeiten, sondern aus purem Pech. Ein Staat mit Zugang zu gratis Kapital wie die Schweiz kann sich gegen dieses Pech wehren. Der Bund kann die Pandemie-betroffenen Unternehmen und Jobs für die Zeit der Pandemie durch Geldspritzen bewahren und so eine Kettenreaktion des wirtschaftlichen und menschlichen Unglücks verhindern. Der vereinfachte Zugang zu Kurzarbeit-Geldern ist effektiv, da er Arbeitsplätze schützt und sicherstellt, dass Löhne immerhin bis zu 80% weiterhin fliessen. 

In der zweiten Welle hat der Bundesrat seine Strategie geändert. Mit seiner aktuellen Strategie will der Bundesrat die Wirtschaft durch möglichst wenige Massnahmen zur Corona-Eindämmung schützen und opfert dabei Menschenleben. Der Bundesrat könnte die Wirtschaft auch durch gratis Schulden schützen und gleichzeitig Menschenleben retten. Die Verhinderung von Schulden, die nichts kosten, scheint dem Bundesrat wichtiger zu sein als die Verhinderung von mittlerweile Tausenden Todesfällen. 

Schulden für das Klima 

Die zweite Situation, in der wir die Schuldenhöhe guten Gewissens vernachlässigen können, ist, wenn wir uns für die Schulden etwas Wertvolles in der Zukunft kaufen: Zum Beispiel ein lebenswertes Klima.

Die Schweiz kann den Klimawandel durch die Konsumentscheide ihrer Bewohnerinnen oder durch staatliche Anstrengungen im Inland nur marginal beeinflussen. Aber sie hat Innovationskraft und Geld (wenn sie es denn will). Und damit kann sie viel mehr bewegen als durch Konsumverzicht. 

Der Ökonom Ivo Scherrer schlägt zum Beispiel vor, eine “helvetische Klimawerkstatt” aufzubauen. Die helvetische Klima-Werkstatt folgt dem Missions-basierten Ansatz der Ökonomin Mariana Mazzucato. Das Ziel ist es, statt einzelne Technologien ganze Systeme neu zu entwickeln. Dabei braucht es interdisziplinäre Teams und langfristige Investitionen, die diese Systeme zur Marktreife bringen und wettbewerbsfähig machen. Wenn sie wettbewerbsfähig sind, werden sich die ökologischeren Systeme global ausbreiten und alte, verschmutzende Systeme ablösen. Aus Eigeninteresse der Unternehmen. Die Investitionen der Schweiz hätten so einen globalen Einfluss auf das Klima.

Es gibt noch weitere Möglichkeiten, den schweizerischen Zugang zu gratis Kapital für den Klimaschutz zu nutzen. Klimafinanz-Forscher Florian Egli schlägt vor, eine schweizerische Klima-Bank zu gründen (siehe Kapitel 15 dieses Berichts). Diese wäre vergleichbar mit der Europäischen Investitionsbank (EIB), die bis 2025 die Hälfte ihrer Investitionen in Klima-relevante Projekte investieren will. Die schweizerische Klima-Bank soll dabei in ökologische Technologien und Infrastrukturen investieren, die zu riskant oder zu langfristig angelegt sind für private Investoren. Projekte, in die eine staatliche oder teil-staatliche Klima-Bank investiert, würden zusätzliche private Investorinnen anlocken, da die Klima-Bank eine gewisse Investitionssicherhiet bietet. 

In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag des GLP-Nationalrats Roland Fischer, der einen “Swiss Sustainable Development Fund” einrichten will. Der Vorteil dieser Vorschläge liegt darin, dass sie langfristig eine Marge erwirtschaften und sich selbst finanzieren. Das einzige, was sie brauchen, ist eine starke Kapital-Ausstattung zu Beginn. Und – mit der Gefahr, mich zu wiederholen – diese ist in der Schweiz gratis zu haben.

Massive, Kredit-finanzierte Investitionen in den Klimaschutz sind zudem aus folgenden Gründen sinnvoll:

  • Klimaschutz ist ein Wettrennen gegen die Zeit. Am einfachsten und schnellsten kommen wir auf dem Kapitalmarkt zu den notwendigen Ressourcen für dieses Wettrennen.
  • Früher oder später wird sich die Wirtschaft in Richtung einer Klima-freundlicheren Wirtschaft bewegen müssen. Wenn die Schweiz eine Vorreiterin dieses Wandels ist, werden schweizerische Unternehmen gut positioniert sein für das ökonomische und technologische Umfeld der Zukunft.
  • Es ist die Möglichkeit der freien Marktwirtschaft zu beweisen, dass sie mit Klimaschutz vereinbar ist. Gelingt der Marktwirtschaft dieser Beweis nicht, wird sie noch mehr Legitimation verlieren bei einer Generation, die heute schon “System Change” verlangt.
  • Der politische Weg für Klimaschutz ist ungleich steiniger, wenn er kostet. Kredit-finanziert kostet er vorerst nichts.
  • Nicht alle Klimaschutz-Ausgaben werden sich durch zusätzliches Wirtschaftswachstum selbst finanzieren. Durch die Kreditfinanzierung werden die Kosten für diese Ausgaben von jener Generation bezahlt, die am meisten vom Klimaschutz profitiert: Die Generation von morgen.

Die Schweiz sollte also mehr Schulden machen, um die Wirtschaft aus der Krise zu führen, langfristig wirtschaftsfördernde Investitionen zu tätigen und den Klimaschutz voranzutreiben.  Was steht dem im Weg und wieso? Es sind die Schuldenbremse und der fiskalische Konservatismus, auf dem sie beruht.

Die Schulden- und Schweizbremse

Nachdem die schweizerischen Staatsschulden in den 90er Jahren stark anstiegen, einigte man sich in der Schweiz auf eine Schuldenbremse. Die Schuldenbremse besagt, dass alle Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht budgetiert werden müssen. Nur in einer schweren Rezession oder bei einer Naturkatastrophe kann das Parlament mit qualifiziertem Mehr ein Defizit budgetieren. Rechnungsdefizite müssen aber innerhalb der nächsten Jahre abgetragen werden. 

Die Schuldenbremse garantiert, dass mittelfristig keine zusätzlichen Schulden gemacht werden – unabhängig davon, wieviel sie kosten. Weil der absolute Schuldenbetrag langfristig nicht steigen kann, sinkt die Schuldenquote durch das Wirtschaftswachstum immer weiter. Weil das Finanzministerium unter Maurer konservativ rechnet und weil immer wieder einige nicht ausgeschöpfte Kreditreste übrig bleiben, fällt die Rechnung zudem meist mit einem signifikant höheren Überschuss aus als budgetiert. Wenn ein ausgeglichenes Budget budgetiert wurde, führt das zu einem effektiven Schuldenabbau über die Zeit.

Die Schuldenbremse unterscheidet nicht zwischen normalen Staatsausgaben wie zum Beispiel dem Militär–Budget oder Landwirtschaftssubventionen und Investitionen, die sich langfristig selbst finanzieren. Das führt dazu, dass der Staat chronisch zu wenig oder nicht effizient investiert. Jetzt muss die Schweiz für die ETH-Milliarden Steuern erheben und somit die Wirtschaft bremsen. Ohne Schuldenbremse könnte sie das Geld in der Wirtschaft lassen und gleichzeitig die ETH finanzieren. Deutschland hat sich eine Schuldenbremse nach schweizerischem Vorbild gegeben und leidet seither an chronischer Unterinvestition in die öffentliche Infrastruktur. Schlechte Internetverbindungen in Deutschland sind also mitunter ein Geschenk aus der Schweiz.

Obwohl die Schuldenbremse in der Schweiz beliebt ist, bildet sich langsam Widerstand. Der Grüne-Nationalrat Andrey Gerhard aus Fribourg hat im Dezember 2019 eine Interpellation eingereicht, in der er eine leichte Anpassung der Schuldenbremse an das neue Zinsumfeld und die Herausforderungen des Klimawandels fordert. Fast gleichzeitig reichte die SP-Nationalrätin Ada Marra ein Postulat ein, mit dem sie den Bundesrat dazu bewegen wollte, eine investitionsfördernde Reform der Schuldenbremse anzustossen.

Der Bundesrat empfiehlt beide Vorstässe zur Ablehnung.

Künstliche Knappheit

Hinter der Schuldenbremse verbirgt sich ein tiefsitzender Fiskalkonservatismus, der sich aus einem Gemisch aus zu einfachen Erklärungen, Moralvorstellungen, Staats-Skepsis, veralteter Theorie, politischem Kalkül und Übervorsichtigkeit zusammensetzt. 

Wenn der Fiskalkonservatismus institutionell so etabliert ist wie in der Schweiz, erschwert er politische Veränderungen, indem er eine künstliche Knappheit herstellt. Ich glaube nicht, dass alle Verfechterinnen des Fiskalkonservatismus mit ihrem Wunsch nach ausgeglichenen Budgets und Schuldenabbau diese Verknappung der Mittel anstreben. Aber wenn für jede zusätzliche Ausgabe und Investition zusätzliche Steuern eingetrieben werden müssen, wird es schwieriger, dafür politische Mehrheiten zu finden.

Der Status quo wird systematisch bevorzugt.

Die Wirtschaftsverbände werden sich zum Beispiel nicht für grosse Klima-Investitionen einsetzen, wenn zu deren Finanzierung die Unternehmenssteuern erhöht würden. Wenn aber niemand für die Investitionen bezahlen muss, hat niemand einen Grund, sich dagegen zu wehren. Und oft genug ist genau das die Realität: Niemand muss dafür bezahlen. Die Knappheit n’existe pas. Zumindest nicht dort, wo der Fiskalkonservatismus sie verortet.

Es ist an der Zeit, die Schuldenbremse zu reformieren und vom Fiskalkonservatismus weg, hin zu einer echten politischen Vorsicht zu kommen.

Echte Vorsicht

Denn es ist gut, wenn man mit den Staatsfinanzen vorsichtig umgeht.

Aber Vorsicht bedeutet nicht, Unternehmen und Arbeitsplätze von der Dampfwalze der Pandemie plattmachen zu lassen. Vor allem dann nicht, wenn deren Rettung praktisch nichts kostet. 

Vorsicht bedeutet nicht, die Wirtschaft so langsam wie möglich auf einen grüneren Pfad zu bringen. 

Vorsicht im eigentlichen Sinn des Wortes von “voraus sehen” ist, unsere Lebensgrundlagen zu schützen, ohne die Wirtschaft auf ein vorindustrielles Niveau runterzufahren. 

Vorsicht ist, so viel Geld wie möglich in dieses Ziel zu stecken. Vor allem, wenn es praktisch nichts kostet. 

Die einzige Schuld, die wir nicht bezahlen könnten, ist, wenn wir die Möglichkeit einer klima- und wirtschaftsfreundlichen Zukunft nicht packen, obwohl das Geld dafür kostenlos zur Verfügung steht.


Dieser Beitrag des Hauptstadt-Berichts war auf die Schweiz fokussiert. Normalerweise schreibe ich hier mehr über europäische Politik. Es würde mich freuen, wenn du auch dann wieder mitliest!

3 Antworten auf „Was Ueli Maurer nicht will, dass du es weisst.“

Danke für den ausführlichen und gut verständlichen Artikel. Es ist spannend und erschreckend zu sehen, dass dieses “Gemisch aus zu einfachen Erklärungen, Moralvorstellungen, Staats-Skepsis, veralteter Theorie, politischem Kalkül und Übervorsichtigkeit” – und m.E.n. auch falschem Verständnis seitens bestimmter Politiker – in der Schweiz dazu führt viele Diskussionen über Mehrausgaben im Keim zu ersticken. I.S.v. ‘Die Schweiz kann dich das nicht leisten, Schulden sind schlecht, Punkt’. Diese Argumentation kann man für Privatvermögen führen, aber so pauschal nicht für Staatsvermögen und die wie im Artikel dargestellten anderen Verhältnisse insbesondere bzgl. dem was Schulden bedeuten, über welchen Zeitraum und in welchem Maß sie abbezahlt werden.
Nachdem die Wählerschaft jedoch zum Großteil aus Personen besteht deren Verständnis (verständlicherweise) auf die private Situation beschränkt ist, lässt sich damit einfach – wenn auch falsch – argumentieren.
Das erklärt auch, weshalb es diese extreme Diskrepanz und Schwarz-Weiß-Denken gibt – es wird nicht verstanden, dass eine floriende Wirtschaft nur mit einer unter Kontrolle gebrachten Pandemie möglich ist. Es gibt kein Entweder-Oder.

Guter Artikel. Was aber zu kurz kommt sind die Folgen der Inflation. Die offenen Gelschleusen führen zwangsläufig zu einer immer stärkeren Abwertung des Geldes. Verlierer sind kleine Sparer deren Vermögen auf dem Sparkonto ständig an Wert verliert. Gewinner sind diejenigen, die sowieso schon genug und ihr Geld investiert haben. Seit dem Corona Crash im März sind wir bereits wieder auf auf Rekordhoch an den Aktienmärkten. Wer hat wohl davon profitiert? Sicher nicht die Krankenschwester und der Hauswart.

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